Lucy Liu kennt man als Kämpferin. So wie in der Rolle der eiskalt-eleganten Killerin O-Ren Ishii, die in Quentin Tarantinos «Kill Bill» erst einem rassistischen Yakuza den Kopf abschlägt, ehe sie später sterbend in den blutigen Schnee sinkt. Oder in den beiden Nullerjahre-Neuauflagen von «Charlie’s Angels», wo sie an der Seite von Cameron Diaz und Drew Barrymore reihenweise selbstironisch muskulöse Gangster vermöbelt.
Auch in ihrem neuen Film «Rosemead», der in Locarno auf der Piazza Grande am Donnerstagabend internationale Premiere feierte, kämpft sie – auf andere Weise. Die von ihr gespielte Irene Chong ist eine chinesische Migrantin, eine einfache Frau, die in Kalifornien einen Copyshop besitzt. Seit ihr Mann vor wenigen Jahren gestorben ist, kümmert sich Irene um den 17-jährigen Sohn Joe (Lawrence Shou), bei dem Schizophrenie diagnostiziert wurde. Sie selbst leidet unheilbar an Krebs, verschweigt aber das wahre Ausmass. Der Film ist inspiriert von einem wahren Fall.
In Locarno sitzt die 56-jährige Schauspielerin sechs Journalistinnen und Journalisten gegenüber, an einem sogenannten Roundtable, immerhin. Ihr Kollege Jackie Chan, mit dem sie 2000 «Shanghai Noon» gedreht hat, sprach am Festival überhaupt nicht mit den Medien. Lucy Liu ist bei ihrem Auftreten auch sonst in vielem das Gegenteil des quirligen Stunt-Komikers: kerzengerade Haltung, Haare hochgesteckt, spricht sie konzentriert mit klarer Stimme, empathisch, bescheiden, höchst souverän.
«In Wahrheit bin ich ziemlich introvertiert», sagt die New Yorkerin mit einer so sanften Tonlage, dass man es ihr fast glaubt. Sie nennt sich «casual», bodenständig. Das schicke weisse Sommerkleid mit Spitzenstickerei, das sie hier für spätere Foto-Shootings trage, gehöre ihr nicht einmal: «Sobald wir hier fertig sind, werden sie es mir vom Leib reissen», witzelt sie.
Irene liege ihr am Herzen, weil sie ihr Leben, ihre Probleme gut verstehe: «Ich kenne den Schmerz. Als Kind habe ich lange kaum Englisch gesprochen, war Aussenseiterin und traute mich nicht, etwas zu sagen, wenn andere sich über den Akzent meiner Mutter lustig machten.» Die Eltern, Einwanderer aus Taiwan, waren Akademiker und wurden trotzdem in den USA verachtet.
Für Lucy Liu ist diese Rolle auch der Versuch eines Imagewechsels: «Das ist ein Wendepunkt in meiner Karriere. Gerade am Anfang habe ich viele spassige Rollen erhalten in Martial-Arts- oder Actionfilmen. Aber ich möchte eine wahre, tiefer gehende Geschichte erzählen.» Und das sei nicht einfach, weil man schnell auf einen bestimmten Typus festgelegt werde. Nur eines der Hindernisse, denen Lucy Liu im Laufe ihrer Karriere begegnete.
Geboren 1968 in Queens, teilte sie die Schicksal so vieler migrantischer Glückssucher: ein Aufwachsen zwischen verschiedenen Welten, das Zugehörigkeit einfordert und zugleich erschwert. Auch nach ihrem Schauspieldurchbruch 1998 in der Anwalts-Kultserie «Ally McBeal» wurde sie auf ihre Herkunft festgenagelt: «Selbst wenn ich in einer Rolle spiele, die kein Stereotyp ist, werfen Leute das Stereotyp wieder zurück. Wenn ich eine starke Frau spiele, heisst es sofort: ‹Sie ist eine Drachenlady›. Zu einer weissen Frau würde man das nicht sagen, die wäre einfach stark.»
In den letzten Jahren änderte sich jedoch die Wahrnehmung und auch die Wertschätzung asiatischer Migranten in Hollywood. 2023 räumte «Everything Everywhere All at Once» mit Michelle Yeoh bei den Oscars siebenfach ab. Filme wie «Past Lives» und «Minari» oder die Netflix-Serie «Beef» trugen gleichfalls dazu bei, dass die Geschichten dieser Community vielschichtiger und komplexer wurden. So wie nun «Rosemead».
Das Drama könnte vorab leicht als einer jener Filme abgestempelt werden, die ein Festival hauptsächlich deshalb einlädt, um einem just verfügbaren Star einen Preis in die Hand drücken zu können. Das ist gängige Praxis, die wenigen wehtut: Das Festival freut sich über Ehrengäste, die Zuschauer ebenfalls, die filmische Qualität gerät dabei oft allerdings zur Nebensache.
Aber auch wenn der Film an manchen Stellen etwas zu dick aufträgt, während er zugleich nicht immer die ganze emotionale Wucht erreicht, fährt er unter die Haut. Am Ende trifft Irene eine drastische Entscheidung, die lange nachhallt und hier natürlich nicht verraten wird. Doch sie lädt zum Diskutieren ein: Welche Chancen hatte die Mutter, welche hat sie verpasst? Wie ernst nahm sie die Schizophrenie des Sohns? «Es ist hart, um Hilfe zu bitten. Du möchtest nicht dumm und klein sein», sagt Lucy Liu.
Benannt ist «Rosemead» nach der gleichnamigen Stadt im Los Angeles County mit einem hohen Anteil asiatischer Migranten. Der Regisseur Eric Lin, ebenfalls zum Gespräch in Locarno, wuchs in einer ähnlichen Enklave auf. Für die Handlung sei der Ort noch insofern wichtig, als er den Konflikt verschärft: Irene ist eigentlich Teil einer Gemeinschaft, sie könnte Hilfe erhalten, als Joes Krankheit eskaliert.
Doch Scham, Angst und der Umgang von Bekannten mit psychischen Krankheiten erschweren eine Lösung. «Nur weil du ein chinesisches Gesicht hast, heisst das noch nicht, dass du einer von uns bist», lautet ein wichtiges Zitat im Film. Irene schleudert es einem Arzt entgegen, der kein Chinesisch spricht. Damit steht er auf der anderen Seite. «Grundlegende Wahrheiten sind individuell geworden», sagt Lucy Liu. «Wenn das passiert, verlieren Gemeinschaften ihre Einheit.»
Was für eine wunderschöne Frau